Zum Sprechen geboren

Januar 2007 im Tiergarten Schönbrunn. Benjamin, bald 17 Monate alt, betritt das Großkatzenhaus. Beim Anblick der drei riesigen Tiger, die gerade gemütlich an einem Stück Kuh nagen, wirft Benni die Arme in die Höhe und ruft entzückt: „Katze!“ Eine schöne Anekdote, die Benjamin sicher noch als Teenager öfters zu hören bekommen wird. Aber was ist eigentlich passiert? Hat er das Raubtier mit dem Stubentiger verwechselt? Oder hat er die Ähnlichkeit zwischen Großund Kleinkatze haarscharf erkannt und nur die Kategorie etwas weit gefasst? Klar ist: Niemand hat Benjamin erklärt, dass der Tiger eine Katze ist.
Wortschwämme

Es ist ein Phänomen, das alle Eltern beobachten: Wie Schwämme saugen Kinder Sprache auf und beherrschen bis zu ihrem vierten Geburtstag ihre Muttersprache nahezu perfekt. Ohne dass ihnen die Eltern bewusst etwas beibringen. Kleinkinder meistern die vier Fälle genauso wie komplexe Nebensatzkonstruktionen, an denen erwachsene Fremdsprachenlernende sich die Zähne ausbeißen. In einem Alter, in dem sie gerade bis zehn zählen können und an den leichtesten Logikaufgaben scheitern, beherrschen sie einen Schatz von bis zu 3000 Wörtern aktiv und verstehen alles, wozu auch wir Erwachsene keinen Duden brauchen. Und das alles entwickelt sich so mühelos und selbstverständlich wie das Gehen. Wie entsteht dieses Wunder?

Nur nachgemacht?

Noch in den 1950er-Jahren glaubten Wissenschaftler, dass Sprachlernen eine Frage von Reiz und Reaktion sei. Die Eltern zeigen mit dem Finger auf die Puppe, sagen laut „Puppe“ und loben das Kind, wenn es etwas Ähnliches von sich gibt. Kommt das falsche Wort, folgt die negative Reaktion der Eltern. So lernt das Kind langsam, aber sicher, dass die Puppe eben „Puppe“ heißt.

Klingt logisch, ist aber bei näherer Betrachtung ausgemachter Blödsinn. Es stimmt, dass Eltern es lieben, schon mit ihren neugeborenen Babys zu plaudern. Doch selbst wenn Mama oder Papa den ganzen Tag Dinge benennen, lernt das Kind die Sprache nicht nur durch Nachahmung dieser Wörter. Woher sollte denn das Baby wissen, ob die Oma „Hund“, „Stofftier“, „Spielzeug“ oder „herzig“ meint, wenn sie auf den Plüschhund zeigt? Noch dazu sagen die Erwachsenen ja keine Einzelwörter, sondern eher pausenfreie Lautäußerungen wie: „Schaumaldawiesüß. Dasisdahund.

Dermachtwauwauwau!“ Das Kind muss also erst einmal herausfiltern, wo die einzelnen Wörter anfangen, welche Wörter sich auf welche Dinge beziehen und in welche Kategorie die Dinge gehören. Mitten in die Kategorisierungsarbeit fiel auch Benjamins Zoobesuch.

Seine Kategorie „Katze“ hatte sich mit zwölf Monaten noch ausschließlich auf die beiden Hauskatzen in seiner Wohnung bezogen, dann auf praktisch alles und jedes um ihn herum und schließlich nur noch auf Tiere wie Katzen, Tiger oder Pekinesen, die wohl seiner Meinung nach die Bezeichnung „Hund“ nicht verdienen.

Der Sprachinstinkt

Dieses komplexe Entwickeln von mentalen Wortnetzen hat mit Reiz und Reaktion ganz offensichtlich nichts zu tun. Noch absurder wird die alte Theorie, wenn man die Grammatik betrachtet. Steven Pinker, Linguist und Professor der Eliteuniversität Harvard, hat einmal nachgerechnet.

Müsste ein Kind jedes Wort in allen möglichen grammatikalischen Zusammenhängen zuerst hören, bis es dieses verwenden könnte – der Mensch müsste hundert Jahre alt werden, bevor er einen geraden Satz herausbrächte. Ganz abgesehen davon, dass Eltern vielleicht auf die Höflichkeit ihrer Kinder achten, aber praktisch nie einen falschen Akkusativ korrigieren.

Wenn wir unseren Kindern die Sprache also nicht beibringen, wenn sie uns nicht nur nachahmen, wie lernen dann Kinder zu sprechen? Steven Pinker hat das Phänomen in seinem gleichnamigen Buch den „Sprachinstinkt“ genannt. Die Sprache wird den Babys im wahrsten Sinne des Wortes in die Wiege gelegt, sie ist angeboren.

Babyohren

Französische Wissenschaftler haben das in einem Experiment mit Säuglingen bewiesen, die gerade erst einen Monat alt waren. Den Säuglingen wurden Sprachlaute vorgespielt, so genannte Phoneme. Aus den rund 100 Phonemen setzen sich alle Sprachen der Welt zusammen.

„L“ und „r“ sind zum Beispiel im Deutschen Phoneme, deshalb sind „Lot“ und „Rot“ eindeutig zwei unterschiedliche Wörter.  Im Japanischen existiert nur eines der beiden Phoneme; so entsteht der asiatische Akzent. Die Tests haben ergeben, dass die französischen Babys nicht nur zwischen „l“ und „r“ unterscheiden konnten, sondern alle Phoneme der Welt erkannten, selbst jene, die im Französischen nicht vorkommen. Kinder dürften also mit einem perfekten Ohr für alle Sprachlaute zur Welt kommen.

Schon zehn Monate später hatten die französischen Babys übrigens ihre Universalsprache verloren. Sie unterschieden nur noch die französischen Phoneme, alles andere wurde ausgeblendet.

Plappermäulchen

Trotz dieses großartigen Instinkts lassen die Säuglinge in den ersten sechs Monaten wenig von sich hören außer Schreien, Prusten und Fiepsen. Dann geht das Plappern los: Die Babys bilden mit etwa sechs Monaten erste Silben wie „bababa“ oder „mememe“, worin viele stolze Eltern etwas verfrüht das erste „Mama“ und „Papa“ erkennen.

Das Plappern ist in Wirklichkeit der sprachliche Experimentierkasten der Babys. Sie testen aus, welche Laute sie wie erzeugen können und wie sie sich anhören. Die meisten Kinder entwickeln daraus den so genannten „Jargon“: Sie erzählen endlose Geschichten und imitieren dabei perfekt die Melodie und den Rhythmus ihrer Muttersprache, ohne auch nur ein sinnvolles Wort herauszubringen.

Katze oder Batman

Auf den Sprachrhythmus dürften die Kinder ebenfalls genetisch programmiert sein. Er hilft ihnen dabei, aus dem lückenlosen Strom von Lauten die Wortanfänge herauszufiltern. Im Deutschen zum Beispiel beginnen sehr viele Wörter mit einer betonten Silbe, auf die eine unbetonte folgt: Mama, Nase, Hose, Augen … Auf Basis dieser Hypothese wird gefiltert, manchmal auch falsch.

So wurden für Benjamin aus der Banane die „Nane“ und aus dem Schal der „Lale“. Die ersten Worte, die meist mit dem beginnenden zweiten Lebensjahr kommen, folgen oft diesem Muster. Es handelt sich entgegen dem Klischee auch nicht immer um „Mama“ oder „Papa“. Bennis erstes Wort war, man ahnt es, „Katze“. Steven Pinkers Neffe begann seine Beziehung zur Sprache mit dem Wort „Batman“.

Im Wortrausch

Zwischen 18 und 20 Monaten legen viele Kinder einen Vokabelspurt hin. Der Wortschatz steigt innerhalb kürzester Zeit auf 50 und mehr an. Kurz darauf folgt die Zweiwort- Phase. Die Kinder kombinieren jeweils zwei Wörter zu kurzen Sätzen wie „Papa Arbeit“, „Mama Hause“ oder „Katze runter“.

Die Kombinationen sind nicht zufällig, sondern folgen einer eigenen Grammatik, die schon zu 95 Prozent der Erwachsenensprache entspricht. Ab dem Ende des zweiten Lebensjahres gehen dann die Zweiwortsätze ohne weitere Stufen in ganze Sätze über. Eltern reagieren oft erstaunt, wenn ihre Kleinen ganz plötzlich mit Äußerungen wie „Der Spinat schmeckt nicht gut“ anrücken, wo vorher nur Bruchstücke kamen.

Überreguliert

Mit zwei Jahren beherrschen Kinder im Schnitt 500 Wörter, ein Jahr später sind es 1000, mit fünf bereits bis zu 3000. Etwa zehn pro Tag kommen dazu, bis man als Erwachsener über rund 50.000 Vokabeln verfügt. Dreijährige machen zwar noch häufig Fehler, wesentlich erstaunlicher ist aber, dass die meisten möglichen Fehler nie passieren.

Zudem stecken hinter den Fehlern der Kinder meist nur Regeln, die zu strikt angewendet werden: „Ich habe Pony gereitet“ ist zwar falsch, wäre aber logisch, wenn reiten ein regelmäßiges Verb wäre. Ein weiterer Beweis dafür, dass Kinder nicht imitieren, sondern systematisieren.
Genie mit Ablaufdatum

Kinder haben also einen angeborenen Sprachinstinkt. Sie wissen, wonach sie in einer Sprache, die um sie herum gesprochen wird, suchen müssen. Sie destillieren innerhalb kürzester Zeit intuitiv Regeln heraus, nach denen sie selbst Wörter benützen und Sätze bilden können.

Sie beherrschen mit vier Jahren eine oder sogar mehrere Sprachen, als wäre nichts dabei. Der einzige Haken beim evolutionären Wunder des Spracherwerbs ist: Es hat ein Ablaufdatum. Kinder, die erst nach ihrer Pubertät mit Sprache konfrontiert werden, können unter Umständen ein paar Worte herausbringen – sie werden aber nie normal sprechen können.

Etwa ab einem Alter von acht Jahren beginnt das Gehirn nämlich, die für den Spracherwerb zuständigen Prozesse abzuschalten. Der Grund: Sie verbrauchen viel zu viel Energie, um sie ein Leben lang aufrecht zu erhalten. Deshalb müssen wir Erwachsene mühsam Wörter auswendig lernen und Grammatikregeln pauken, um eine Fremdsprache zu erlernen. Kinder dagegen brauchen niemanden, der ihnen ihre Sprache beibringt. Nur Eltern, die mit ihnen sprechen.


Buchtipps:

Der Sprachinstinkt. Wie der Geist die Sprache bildet von Steven Pinker
Verlag Droemer Knaur
ISBN 978-3-426-77363-5

Sprachentwicklung beim Kind von Gisela Szagun
Beltz Verlag
ISBN 978-3-407-85896-2

Mag. Markus Widmer

Foto: Jin Yong/Shutterstock.com

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