Trödelstimmung oder Abwehrhaltung ?

„Muss ich dich noch fünfmal auffordern, dass du dich beeilen sollst?“ „Ich sage es dir zum letzten Mal: Wir haben nur noch zehn Minuten Zeit!“

Die meisten von uns haben „Lieblingssätze“ wie diese auf Lager. Besonders, wenn wir Eltern uns im Zeitdruck befinden, schalten wir oft ganz automatisch auf dieses „Muss ich es dir noch zweimal sagen?“-Programm um. Gerade dann scheint es so, als ob Kinder plötzlich gar kein Zeitgefühl mehr aufbringen können. Nicht selten formulieren es junge Eltern in meiner Praxis so: „Mein Kind scheint mich oft zu provozieren, indem es meine Zeitvorgaben völlig ignoriert. Wenn ich dann mehrmals zur Eile auffordere, scheint sein Gehör immer stärker zu versagen…!“

Meistens stelle ich den verzweifelten Eltern eine nicht minder provokante Gegenfrage wie diese: „Welchen Erfolg, liebe Eltern, versprechen Sie sich, wenn Sie Ihre Aufforderungen öfters unter Stress wiederholen? Denken Sie vielleicht, dass Ihrem geliebten Sprössling nach der fünften Aufforderung plötzlich das viel besungene ,Licht‘ aufgeht?

Aufgewacht

Die neunjährige Verena hockt immer noch in ihrem Zimmer, als die schon etwas gestresste Mutter an den Aufbruch erinnert: „Jetzt sage ich es dir schon zum fünften Mal: Wir müssen los zu Oma!“ „Cool!“, denkt die Kleine. „Dann wirst du es sicher auch noch ein sechstes Mal fertigbringen! Und seelenruhig spielt sie weiter mit ihrer Barbie… Die Mutter hingegen meint, dass ihr trödelndes Töchterchen endlich aufgewacht ist, und hofft auf ganz andere Gedanken: „Danke, Mami, dass du mich jetzt so oft erinnert hast! Das hat mir die Augen geöffnet und ich werde mich jetzt immer, wenn wir los müssen, richtig beeilen. Übrigens: Danke, dass du mich nun angebrüllt hast, das hilft mir sehr und ich strenge mich total gerne für dich an!“

Auch auf die Gefahr hin, Sie enttäuschen zu müssen: So funktioniert das leider nicht. Genau das Gegenteil tritt ein: Wenn wir ein und dieselbe Aufforderung mehrmals wiederholen, besonders unter Stress und spannungsgeladen, dann reagiert das Kind bloß mit Abwehr. Kinder fühlen sich in Situationen, da Zeitdruck herrscht, nicht motiviert, sondern höchstens überfordert. Dazu kommt leider auch, dass wir Erwachsenen offenbar schon längst vergessen haben, dass sich Kinder permanent in einem eigenen Universum befinden: jenem des Spiels. Um es ihnen leichter zu machen, gilt es eine einfache Regel zu beachten: die zeitgerechte Vorbereitung! Kinder brauchen eine leicht überschaubare Zeitspanne, um ihren spielerischen Handlungsbogen ausklingen zu lassen. Da helfen „erwachsene“ Zeitangaben wie „In einer halben Stunde bist du fertig“ wenig, Schon nach kurzer Zeit kann ein Kind oft nicht mehr nachvollziehen, wie viel Zeit verstrichen ist. Wenn Mami dann gestresst nachhakt, ist das ein erneuter Einbruch in das Spieluniversum: „Wieso muss ich gerade jetzt aufhören?“, hört man dann. Die erneute „Störung“ birgt also wieder Potenzial für Spannung und mögliche Eskalation.

Der Countdown läuft …

Besonders für jüngere Kinder ist es wichtig, einen herannahenden Zeitpunkt gut „sichtbar“ und damit nachvollziehbar zu machen: Das kann zum Beispiel eine Kletterfigur sein, die ihren Abstieg genau nach vier Minuten beendet, oder ein Pendel, das vorhersehbar zur Ruhe kommt. Bei Kindern ab sieben Jahren haben sich Countdown-Zählwerke mit großem Display überaus bewährt. Ihr Kind bekommt durch solche Hilfsmittel ein Gefühl für Zeitspannen und stellt sich besser auf knappe Zeitfenster ein. Wenn Ihr Kind schon länger Schwierigkeiten mit dem Befolgen von Zeitvorgaben hat, hilft stufenweises Vorbereiten in Verbindung mit sehr präzisen Zeitangaben: „Jetzt sind es noch vier Minuten und 22 Sekunden … “ Trauen Sie sich ruhig, mit solch präzisen Angaben Ihrem Kind das Gefühl zu geben, dass Sie es mit der von Ihnen gefordertenZeitspanne ernst meinen. Allein, weil Sie Ähnliches zuvor wahrscheinlich noch nicht gemacht haben, erzeugt dieses Vorgehenerhöhte Aufmerksamkeit bei Ihrem Kind. Doch vor allem schafft es Vertrauen inder kindlichen Gefühlswelt: „Papa meint auch wirklich ganz genau, was er sagt.“ Sofällt auch das Befolgen von unpopulären Vorgaben um einiges leichter!

Gerhard Spitzer, Sozialpädagoge, Familiencoach und Erziehungsberater. Seit mehr als 26 Jahren erfolgreich in der außerschulischen Jugendarbeit als Betreuer und pädagogischer Leiter sowie als Erziehungsberater tätig, kennt und liebt die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aller „Schwierigkeitsgrade“. Erfolgreich und gerne besucht sind seine humorvollen Vorträge zum Thema „Entspannt erziehen“.

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