„Auf dem Weg zur Baumkrone“

Unsere Kinder haben heute viele Möglichkeiten, sich zu entfalten und ihre Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Wir wollten wissen: Sind es manchmal zu viele? Und wie findet man die besten? Wir haben zwei Expertinnen zum Thema „Kreativität“ befragt.

„Meine Tochter ist so kreativ, sie malt uns die ganzen Wände voll“, sagt eine stolze Mama. „Unser Sohn kann schon die schwierigsten Klavierstücke spielen“, meint die andere. Das Programm vieler Kids ist umfangreich, vom Malkurs über Musikunterricht bis zu Bastelworkshops etc geht das Angebot. Gefahr dabei: Kids werden überfrachtet und in einen Stundenplan gepresst, das Programm, das freiwillig absolviert großen Spaß gemacht hat, wird zu dicht und der Effekt schlägt ins Gegenteil um. Die Kinder haben genug, verweigern. Grund genug, die Sache mit der Kreativitäts-Förderung etwas langsamer anzugehen. Und Kindern die Zeit zu geben, die sie brauchen, um sich aktiv mit sich und ihrer Umwelt auseinander zu setzen. Aber nun erteilen wir das Wort zwei Expertinnen, die bei den Wiener Kinderfreunden Tag für Tag Erfahrungen mit Kindern sammeln. Und ganz genau wissen, wo und wie man Kids abholen muss. 
Text: Anna Heisinger
Foto: Syda Productions – shutterstock.com
Mag. Michaela Waiglein
Grundausbildung: Kindergarten- und Hortpädagogik
Studium der Sonder- und Heilpädagogik absolviert
Als Spiel- und Freizeitpädagogin koordiniert sie bei den Wiener Kinderfreunden das Spielbus-Team und die Parkbetreuung im 10. Bezirk

Regina Nitschke
Kindergarten- und Hortpädagogin, zweifache Mutter
Als Spiel- und Freizeitpädagogin koordiniert sie bei den Wiener Kinderfreunden die Parkbetreuung im 16. und 18. Bezirk
Fratz&Co
Wie definiert man Kreativität bei Kindern? 
Mag. Michaela Waiglein 
Phantasievolles und schöpferisches Denken, (für Kinder) neuartige Ideen haben sowie flexibel und gestaltend handeln.
Fratz&Co
Welche Bedeutung hat Kreativität? 
Mag. Michaela Waiglein
Nicht mehr und weniger, als dass sie der Zugang zu einer selbstbewussten, selbstschaffenden Persönlichkeit ist, die auf ihre Umwelt aktiv einwirken kann und nicht von ungünstigen Umständen überrollt wird. 
Regina Nitschke
Kreative Menschen finden immer wieder den Weg an die Wasseroberfläche, weil sie wissen, dass sie ein großes Stück ihres Lebens selbst gestalten und Lösungen auf Probleme selbst finden können.
Fratz&Co
Was unterscheidet kindliche Kreativität von der Erwachsener?
Mag. Michaela Waiglein
Kinder gehen noch ungezwungener mit ihrer Umwelt um, nehmen nicht so vieles als gegeben hin und versuchen noch Dinge zu verändern, die wir Erwachsene schon eher als unabänderlich ansehen. Außerdem probieren Kinder sehr viel aus und staunen über die  – vielleicht nicht vorhersehbaren – Ergebnisse, während Erwachsene eher viel ausprobieren, um unterschiedliche Ergebnisse zu erzielen.
Fratz&Co
Wie fördert man als Elternteil die Kreativität seines Kindes?
Mag. Michaela Waiglein
Indem die Eltern die Selbständigkeit des Kindes fördern, auf Ideen der Kinder eingehen und einen weiten Horizont durch unterschiedliche Erfahrungen schaffen (beispielsweise durch Ausflüge, Reisen, das Erlernen eines Instruments, Betreiben von Sport, etc.) – doch alles in geeigneten Maßen, damit keine Überforderung entsteht.
Regina Nitschke
Um kreativ zu sein, braucht ein Kind vor allem Zeit für sich allein bzw. mit anderen Kindern und den Freiraum, Dinge in Ruhe auszuprobieren oder auch scheinbar gar nichts zu tun, das ständige Bespielen oder Durchplanen von kindlicher Freizeit ist der beste Weg kreative Prozesse zu verhindern.
Fratz&Co
Wie geht man auf die Neigungen der Kinder ein?
Mag. Michaela Waiglein
Indem die Eltern beobachten und sich ein Stück weit zurücknehmen, um nicht den Fehler zu begehen, die eigenen Wünsche auf das Kind zu projizieren. Indem sie helfen, unterstützen und leicht lenken, aber nicht drängen, zwingen oder ersatzweise für die Kinder handeln.
Fratz&Co
Wie umfassend soll/kann eine Förderung erfolgen, wie erkennt man, welche Richtung man am besten einschlägt? Wie viel Förderung ist genug, wie viel zu viel?
Mag. Michaela Waiglein
Da gibt es kein Rezept. Jedes Kind ist mit seinen individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten eine eigenständige Persönlichkeit mit Vorlieben, Launen und Abneigungen. Solange die Richtung, die eingeschlagen wird, den Kindern den Spaß an der Sache nicht nimmt und sie nicht langweilt, ist es grundsätzlich nicht falsch. Die Eltern sollten sich auch nicht stressen, um die Kinder unbedingt jede Minute des Tages auszulasten und zu fördern. Ein relaxter Zugang kann durchaus hilfreich sein, um die Ganzheitlichkeit des Lebens nicht aus den Augen zu verlieren.
Fratz&Co
Wie schafft man als Elternteil die Voraussetzungen für die Entwicklung der kindlichen Kreativität?

Mag. Michaela Waiglein 
Ist unterschiedliche Anregung da, dann geht es von allein. Lasst die Kinder unterschiedliches Ausprobieren. Wenn den Kindern etwas gefällt, findet mehr davon, aber vergesst nicht auf ein paar neue Inputs, damit der Erfahrungsschatz erweitert wird und die Kinder das nächste finden können, das ihnen gefällt. 
Regina Nitschke
Jedes Kind ist von Geburt an kreativ. Wer ein Baby beobachtet, wie es die Welt für sich gewinnt und Stück für Stück erobert, kann diesen Prozess nicht anders als kreativ nennen. Versuch und Irrtum, eine neue Lösung finden, es immer wieder aufs Neue zu probieren, all das ist Kreativität
Fratz&Co
Welche Rolle spielen außerhäusige Angebote, wie trifft man eine vernünftige Auswahl aus der schier unüberschaubaren Flut von Angeboten?
Mag. Michaela Waiglein
Eine vernünftige Auswahl ist dann gegeben, wenn die Kinder weder über- noch unterfordert sind. Wobei es nicht darum geht, ein „Superkind zu komponieren“. Ganz nach dem Motto: eine Brise Musikalität durch das Erlernen eines Instruments, ein Hauch handwerkliches Geschick durch Modellbau und eine Ladung Sportlichkeit durch Fußball/Volleyballtraining. Geschüttelt und gerührt und mit einer Soße aus schulisch guten Noten. Eltern, die so vorgehen, ängstigen mich.
Eher würde ich befürworten, wenn die Eltern gemeinsam mit den Kindern die Auswahl an Freizeitgestaltung treffen. Und die sich nicht entmutigen lassen, wenn die Kinder es sich doch mal anders überlegen und etwas Neues ausprobieren wollen. 
Regina Nitschke
Freizeitangebote müssen vor allem dem Kind Freude bereiten, es interessieren, nur dann kann der gewünschte „Erfolg“ eintreten.

Fratz&Co
Welche kreativen Freiräume braucht ein Kind, um sich zu entfalten?

Mag. Michaela Waiglein
Das lässt sich nicht für alle Kinder im gleichen Maße sagen. Kinder entfalten sich so oder so, dass lässt sich nicht aufhalten. Wenn die Kinder die Möglichkeit bekommen, an vielen Erfahrungen teilzuhaben, dann lässt sich am ehesten herausfinden, wobei sie ihr Glück finden, woran sie Spaß haben. 
Am besten lässt es sich mit einem Baum vergleichen. Wenn alle Möglichkeiten, die Kinder haben, Äste verschiedener Bäumen sind, dann sollten die Eltern beobachten, welche Bäume die Kinder gerne erklettern und wie hoch sie sich gerade befinden. Immer Ast für Ast, Stück für Stück, für den richtigen Aufstieg in die Baumkronen der Möglichkeiten. Die Auswahl der Bäume steht für den individuellen Mix, der die Persönlichkeit des Kindes ausmacht.

Fratz&Co
Kreativität einst und jetzt – war es in Zeiten von weniger Spielzeug und weniger Vorgefertigtem in der Kindheit leichter sich zu entfalten? Oder sind die heutigen Konzepte der Förderung mittlerweile unumgänglich für die optimale Entfaltung der Kreativität?
Mag. Michaela Waiglein 
Kinder entwickeln sich mit den Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen. Früher mit anderem Spielzeug als jetzt. Die Kinder von heute brauchen für ihr weiteres Leben andere Fertigkeiten als früher. Das Spielzeug passt sich dem an. 
Regina Nitschke
Gutes Spielzeug lässt Kindern verschiedene Möglichkeiten der Nutzung, schränkt kreatives Schaffen nicht ein. Förderung soll immer herausfordern und nicht mal eben oben im Kindergehirn etwas einfüllen, damit dann ein gewünschtes Ergebnis rauskommt. „Optimale Entfaltung der Kreativität“ klingt mir nach gutem Prinzip für unsere pädagogische Tätigkeit, aber nach sehr viel Druck für Eltern.
Fratz&Co
Ihre Tipps für die Förderung der Kreativität in den verschiedenen Altersstufen (Baby / Kleinkind / Kindergartenkind / Schulkind)?
Mag. Michaela Waiglein 
Die Kinder zu den verschiedenen Bäumen der Möglichkeiten begleiten. Auf ihrem Weg Ast für Ast höher hinauf beobachten, unterstützen, auffangen, aber nicht drängen, schieben oder ein schlechtes Gewissen haben/machen, wenn die Kinder einen neuen/anderen Weg einschlagen wollen. 
Regina Nitschke
Manche Kinder wollen längere Zeit auf einem Baum, auf einem Ast verweilen. Auch das ist völlig in Ordnung. Ob das Nachbarskind bereits den höchsten Ast des höchsten Baumes erreicht hat, ist völlig unwichtig, das ständige Vergleichen behindert hier nur alle Beteiligten, setzt alle unter Druck. Zeit geben, Zeit schenken: Zeit ist für mich zum kreativen Wachsen die entscheidende Zutat.