Angst im Dunkeln

Gerhard Spitzer denkt über frühe Ängste nach …

„Also, meine Tochter kann ohne Licht in ihrem Zimmer nachts kein Auge zu machen, soviel ist sicher!“, verkündet Susanne F., die junge Mutter der 5-jährigen Maya während unseres Beratungsgespräches. Soeben haben wir uns über diverse genetische Veranlagungen unterhalten, und ob Kinder in manchen Dingen schon ab dem ersten Tage ihres Lebens halt so sind, wie sie sind. „Das wäre dann natürlich auch bei Ängsten so!“, meint Frau F. „Manche Kinder wie meine kleine Maya, haben eben schon gleich von Geburt an ganz schlimme Angst im Dunkeln und andere nicht“, berichtet die Mutter weiter. Da könne man eben nichts machen, außer immer daran zu denken, das nächtliche Licht brennen zu lassen. Was sollte Verhaltenstraining denn daran ändern? 
Sie als Fratz & Co-LeserIn werden ja meine Ansätze schon kennen. Feststellungen wie: „Da kann man nichts machen“, akzeptiere ich nicht gerne. Man kann immer etwas machen! Wenn das nicht so wäre, würde das ja heißen, in bestimmten Belagen den Elternjob einfach aufzugeben. Aber welcher Elternteil will oder kann das wirklich?
Anstatt einer Antwort riskiere ich deshalb bei Mayas Mutter zunächst einmal einen forschenden Blick hinüber zum Regal mit den gesammelten „Kinderbüchern“ zum Vorlesen. Angesichts einiger Buchtitel entspinnt sich für mich die erste dunkle Märchengeschichte meines Lebens …

Der Dunkle Elf

Der finstere Dunkelelf, dem die bösen, schwarzen Nachtalben schon vor Jahrhunderten aus gutem Grund den Namen „Schreckmann Finsterfratz“ gegeben hatten, trat aus dem Wald, dessen kalter Finsternis noch niemand entkommen war. Er sprang auf die beiden wie versteinert da stehenden Kinder zu, die augenblicklich vor Angst zu zittern begannen und schlug sofort seinen schwarzen Mantel um sie. Doch am Rande der Lichtung hatte die gute weiße Elfe, deren goldenes Haar vom letzten Sonnenlicht eingerahmt schien, schon ihr weißes Zauberbuch aufgeschlagen und ihre magischen Worte drängten die drohende, finstere Macht des dunklen Magiers zurück … Ende! Ach ja, die obligaten Märchen-Schlussworte fehlen noch: Und wenn sie nicht alle im finsteren Zauberwald verschollen sind, dann zittern sie auch heute noch. So, jetzt passt es: „Ende“.
Ja, ja, ich weiß: Die Geschichte war mal wieder etwas überzeichnet … und haarsträubend! Aber sind das Märchengeschichten nicht allzu oft? Leider!

Finstere Geschichten, markige Sprüche

Meine spontan erdachte Story hilft mir jedenfalls zu verstehen, womit Mayas frühe Angst eventuell begonnen haben könnte. Zahlreiche, nur allzu beliebte Mama-, Papa-, Oma-, oder Opa-Gute-Nacht-Geschichten enthalten standardmäßig Passagen mit manch „grausiger Schwärze“, „eisiger Dunkelheit“ oder „gar finsteren Mächten“. Ist es dann nicht auch möglich, dass Susanne F. ihrem Sonnenschein, Maya, mit manch einer liebevoll gemeinten Einschlaf-Hilfe schon früh ihre unbewusste Angst vor der Dunkelheit verkauft haben könnte?
Ich frage nach – und erfahre, dass speziell Mayas Oma zuweilen die Folgsamkeit Ihrer Enkelin mit markigen Sprüchen wie diesem einfordert: „Wenn du nicht brav bist, holt dich der schwarze …!“ 
Ja, schon klar: Omis Sprüchlein entsprechen nicht mehr dem erzieherischen Mainstream. Gut so! Dennoch: Mir begegnet so etwas in meiner Praxis nach wie vor. Und zwar viel öfter, als Sie es vielleicht für möglich hielten.

Kein Märchen

Vielleicht konnte ich den festen Glauben vieler Eltern an eine „genetische Prädisposition“ noch nicht ganz vom Tisch fegen. Sicher gibt es tatsächlich einige genetisch verankerte kindliche Ängste, wie z. B. jene vor dem „Verlassen Werden“ (gleichbedeutend mit: Liebesverlust). Aber dann muss wenigstens im Falle der „Angst im Dunkeln“ ein Gegenbeweis her: Wohin, liebe Eltern, ziehen sich Kinder zuweilen zurück, wenn sie sich schlecht fühlen? Richtig! Unter die Decke. In ihre „dunkle Höhle“. In bestimmten Entwicklungsphasen zeigen Kinder dieses Verhalten sogar ziemlich ausgeprägt. Forscher haben das natürlich längst entschlüsselt: Es ist eine Art „Transformation“ des unbewussten Wunsches, zurück in den Mutterbauch zu gelangen. Das, liebe Leser, ist jedenfalls kein Märchen: Wenn Kinder sich wirklich geborgen und sicher fühlen möchten, wird schlicht ein Rückkehr-Impuls in den Bauch der Mutter ausgelöst. Man weiß zwar mittlerweile, dass dort keine absolute Finsternis herrscht, aber zumindest ist es sehr dunkel. Also ist zumindest ein genetisches Programm vielleicht nun schon verständlich geworden: Dunkelheit = Geborgenheit!
Interessiert fragt Mayas Mutter zum Schluss unseres Gespräches: „Kommt denn die Angst vor Dunkelheit ausschließlich von solchen Geschichten?“ Nein, natürlich können auch andere Muster zur Entwicklung solcher Situationsängste beitragen: Unsere eigenen Äußerungen zum Beispiel. Vor allem aber unser eigenes Verhalten: Schließlich verbringen wir Erwachsene in unserem Heim kaum jemals bewusst Zeit im Stockdunkeln. Probieren wir es doch einmal, wie es sich anfühlt … Und wenn die (etwas älteren) Kinder wieder einmal „Verstecken im Dunklen“ spielen, machen wir einfach mit.

FratzTipps

So nehmen Sie der Dunkelheit ihren Schrecken

Angst vor der Dunkelheit können Kinder mit ein wenig Hilfe ganz leicht wieder ablegen. Das kann oft schon dadurch gelingen, dass Sie das Thema zunächst einmal nicht durch ständiges Erwähnen und darauf Eingehen aufwerten. 
Ständiges künstliches Licht während des Schlafes bringt den natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus Ihres Kindes durcheinander (circadianer Rhythmus).
Achten Sie bei Ihren ganz alltäglichen Äußerungen darauf, wie Sie selbst Dunkelheit und ganz allgemein „Schwärze“ bewerten. Bei anderen Völkern ist beispielsweise die Farbe Weiß mit Gefahr und Bedrohung verbunden. Es ist alles eine Frage des Blickwinkels. Auch für Ihr Kind …
Vermeiden Sie bitte bei ohnehin schon sensibilisierten Kindern Geschichten mit „bedrohlich finsteren“ Inhalten. Besonders vor dem Einschlafen.
Schalten Sie ein paar Abende hintereinander das allgegenwärtige Fernsehgerät und andere Beleuchtungseffekte frühzeitig ab. Erst dann kann Ihr Kind ein entspanntes Gefühl für Dunkelheit als heimischen Normalzustand entwickeln.
 
Diesen Tipp dürfen Sie natürlich noch vertiefen: Schalten Sie zunächst alles ab und bleiben Sie dann entspannt im Dunkeln sitzen. Sicher fragt Ihr Kind bald: „Was machst du da?“ Antwort: „Ich genieße grade ein bisschen die Dunkelheit!“ Raten Sie mal, wer da auf einmal begeistert mitmachen will …
Foto: Zurijeta – shutterstock.com
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