Mehrsprachige Erziehung

Natascha ist ein misstrauisches Mädchen. Seit ich durch die Tür gekommen bin, beäugt sie mich skeptisch und lässt die Hand ihrer Mutter nicht los. Als wir es uns im Wohnzimmer gemütlich machen, kuschelt sie sich fest an die Mama. Andere Kinder flüstern der Mutter ins Ohr, wer denn das sei. Natascha fragt laut. Auf Spanisch. Ihre Mutter lacht: “Normal spricht sie eigentlich nur Deutsch!”

Erlebnis Mehrsprachigkeit

Natascha ist eines der Kinder, die das Privileg einer zweisprachigen Erziehung genießen. Ihre Mutter stammt aus der Dominikanischen Republik und spricht nur Spanisch mit ihr, Deutsch lernt sie vom Papa, von den Großeltern und den anderen Kindern.
Ihre Mutter meint: “Einstweilen spricht sie nur Deutsch, versteht aber alles auf Spanisch. Mir ist es sehr wichtig, dass sie Spanisch kann. Und ich glaube, später wird es auch für sie wichtig sein.”

Fremdsprachen haben in unserer globalisierten Welt sehr viel an Wert zugenommen. Immer mehr Eltern entscheiden sich für einen englischen Kindergarten, ein anderssprachiges Au-pair-Mädchen, oder legen den Kindern durch die eigene Mehrsprachigkeit die zweite Sprache sozusagen in die Wiege.

Mehrere Sprachen erweitern nicht nur die Kommunikationsfähigkeit der Kinder, sondern auch ihren Horizont. Vor allem in mehrsprachigen Familien ermöglichen sie den Zugang zu deren Bezugsgruppen und dienen als Grundlage der Zugehörigkeit und Akzeptanz. Für die Kinder sind sie ein Teil ihrer Identitätsarbeit.

Tipps zur mehrsprachigen Erziehung

Es gibt eine Reihe Faktoren, die es den Kindern erleichtern können, zwei Sprachen gleichzeitig zu lernen:
Das wichtigste Prinzip heißt: Sprachen trennen! Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass sich eine klare Trennung der Sprachen günstig auswirkt. Man braucht eindeutige Regeln, wer wann mit wem in welcher Sprache spricht, damit das Kind immer weiß, welche Sprache gerade dran ist. Nur so lernt es die Sprachen zu unterscheiden.

Die bekannteste und wohl wirksamste Sprachtrennung lautet: eine Person – eine Sprache. “Die Kinder müssen wissen, mit wem sie welche Sprache sprechen”, erklärt Claudia Riehl, Privatdozentin der Universität Freiburg, die sich mit dem Thema Mehrsprachigkeit und Sprachkontaktforschung beschäftigt.

Das kann so aussehen wie bei Natascha, mit der die Mutter Spanisch und der Vater Deutsch spricht. “Die Sprache ist dann emotional mit einer Person verknüpft”, so Riehl.

Es gibt aber noch andere Möglichkeiten der Sprachtrennung:
• In der Familie wird eine andere Sprache gesprochen als in der Umgebung.
• Ein Gespräch wird in der Sprache geführt, in der der erste Satz gesagt wurde.
• Andere, der Lebenssituation angepasste Trennung: Wenn Papa da ist, wird in Sprache X gesprochen etc.

“Grundsätzlich sollten die Eltern aber zumindest darauf achten, dass sie die Sprachen auf keinen Fall beliebig durcheinandermischen. Sonst gibt es ein heilloses Kauderwelsch und es kann eine sogenannte ‚doppelte Halbsprachigkeit‘ entstehen”, warnt Riehl.

Intensität der Kommunikation

Eine wichtige Frage ist, wie viel Zeit man gemeinsam verbringt und wie diese genützt wird. Ein Kind kann eine Sprache logischerweise umso leichter erlernen, je häufiger und intensiver die Kommunikation stattfindet.
“Die Kinder müssen möglichst viel und möglichst korrekten Input in den jeweiligen Sprachen bekommen”, rät Claudia Riehl, “der Erwerb von zwei Sprachen erfordert etwas mehr Anstrengung, die die Kinder in der Regel gerne aufbringen.”

Die Lernforschung hat gezeigt, dass eine wirksame Anregung immer etwas über dem Entwicklungsstand des Kindes liegen sollte. Alltagsgespräche werden alsbald nicht mehr reichen. Eine hilfreiche Unterstützung sind daher Spiele, Bücher oder Videos in der Nichtumgebungssprache.

Reisen haben eine große Wirkung! Das Erlebnis, dass es ein Land gibt, in dem die “Ausnahmesprache” von allen Menschen gesprochen wird, kann das Kind sehr positiv beeinflussen. Ebenso das Erlebnis, dass diese Sprache keine “Erwachsenensprache” ist. Freundschaften mit Altersgenossen, die die gleiche Nichtumgebungssprache sprechen, sind sehr bedeutend.

Das Kind erhält nicht nur einen reichhaltigen Sprachinput, in bestimmten Altersstufen ist es ausgesprochen wichtig, dieselbe Sprache wie die Freunde zu sprechen um akzeptiert zu werden. Dies ist einer der Gründe, warum sich Natascha weigert, ihrer Mutter auf Spanisch zu antworten.

Sprachprestige

Es gibt Sprachen, die mehr geschätzt werden als andere. “Das merken bereits kleine Kinder”, erzählt Nicole Strasser, Kindergärtnerin, die in ihrer Gruppe mehrere zweisprachige Kinder betreut.
“Die Kinder, die aus England kommen, sind ganz stolz darauf. Bei jeder Gelegenheit erzählen sie ‚Wir sind in England geboren und haben dort noch ein Zuhause‘. Wenn aber die anderen erzählen, sie fahren nach Kroatien, dann geht das komplett unter. Serbokroatisch ist keine Wunschsprache.”

Geht es um eine Sprache mit einer hohen Akzeptanz, erfährt die Familie mehr Unterstützung bei ihren Bemühungen um eine mehrsprachigen Erziehung und es besteht ein reiches Angebot an Lern- und Spielmaterialien.

Geht es hingegen um eine Sprache mit weniger Prestige, ist es besonders wichtig, dem Kind die Kultur und Bedeutung, die mit dieser Sprache verbunden ist, zu erklären und nahezubringen.

Man sollte mit dem Kind grundsätzlich nur Sprachen sprechen, die man selbst gut beherrscht. “Kinder, derer Eltern nicht gut Deutsch sprechen und trotzdem versuchen, ihnen Deutsch beizubringen, machen oft Grammatikfehler, verwechseln die Artikel und benützen Formulierungen, die es im Deutschen so nicht gibt.”, erzählt Strasser.

Was tun bei Sprachverwirrung im Kopf?

“Look mal!”, sagt der kleine Liam (5), als er mir stolz seine Zeichnung präsentiert. Das kommt gar nicht so selten vor. Wird die Sprachtrennung zu Hause jedoch konsequent durchgeführt, lernen die Kinder mit der Zeit, die Wörter richtig zu benützen. Es kann auch vorkommen, dass das Kind die Grammatikregeln der einen Sprache auf die andere überträgt.
Dies ist häufig kein Fehler, sondern ein kreativer Vorgang – das Kind experimentiert mit den Sprachen. In diesem Fall sollte man die Umgebung, vor allem die Lehrer des Kindes, um Nachsicht bitten.

Es ist auch möglich, dass zweisprachig aufwachsende Kinder etwas später mit ihren ersten Wörtern und Einwortsätzen beginnen, da sie gleich zwei Sprachsysteme verarbeiten müssen. “Diese Verzögerung hat sich aber in der Regel im Alter von zwei, spätestens drei Jahren wieder ausgeglichen und die Kinder sind dann auf dem gleichen Stand wie Einsprachige”, versichert Riehl.

Ein weiteres Problem tritt auf, wenn Kinder die Nichtumgebungssprache kurzerhand verweigern. “Sie versteht absolut alles auf Spanisch. Aber sie antwortet immer nur auf Deutsch”, beschwert sich Eunice (37), die Mutter von Natascha. Auch Doris (31), die englischsprachige Mutter von Zwillingen, kennt die Situation: “Bevor sie in den Kindergarten gekommen sind, haben sie mit mir immer Englisch gesprochen. Plötzlich sprechen sie nur noch Deutsch.”

Das hat verschiedene Gründe. Bereits Kinder wollen so sein wie andere und bloß nicht auffallen, dieses Bestreben verstärkt sich noch in der Pubertät. Hier muss man Geduld üben und unbeirrt weiterhin die Nichtumgebungssprache sprechen.

Sprachverweigerung kann auch ein Teil der Identitätssuche sein – bin ich nun ein Deutscher oder ein Engländer? – und auch ein Instrument, um sich von den Eltern abzugrenzen. Versuchen Sie, Kontakte zu anderen gleichaltrigen Kindern herzustellen. Eine Reise in das Land, in dem die Nichtumgebungssprache gesprochen wird, kann Wunder wirken!

Bei allen Bemühungen darf man die Latte aber nicht zu hoch ansetzen. Es ist sinnlos zu verlangen, dass das Kind beide Sprachen perfekt spricht. Die Sprache, in der es mit seiner Umgebung spricht und unterrichtet wird, wird die starke bleiben. Mehrsprachigkeit ist bereits dann gelungen, wenn sich das Kind seinem Alter entsprechend in beiden Sprachen ausdrücken kann!

Mag. Christina Schmid

Foto: michaeljung/Shutterstock.com

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