Einfordern oder zugeben?

Ihr Kind hört nicht auf Sie? Warum das vielleicht weniger an Ihrem Nachwuchs als an Ihnen selbst liegt, verrät Kiddycoach Gerhard Spitzer.

„Warum hört mein Kind nicht auf mich?“, „Warum ist meine kleine Tochter so furchtbar trotzig?“, „Wieso tut mein Sohn nicht, was ich von ihm verlange?“ Fragen wie diese höre ich in meiner Praxis täglich. Meine Antworten auf diese und ähnliche Fragen der Eltern? Hier eine davon: Liebe Eltern! Eure Kinder verhalten sich nicht aus Lust und Tollerei so, dass ihr es als falsch empfindet. Sie werden auch nicht deswegen oft trotzig, weil sie diesen Zustand so schön finden. Sie wissen ja bereits: Kinder sind zutiefst handlungsorientiert! Deshalb fordern sie mit ihren Handlungen bloß Dinge ein, die schon davor ein oder mehrere Male gut funktioniert haben. So einfach muss man es sehen! Punktum! Mein Tipp aus der Praxis: Fragen Sie sich doch noch bevor Sie sich über Ihren kleinen Faulpelz, Ihr süßes Trotzköpfchen oder Ihren Verweigerer heftig aufregen, ob Sie all das nicht selbst zugelassen haben? Da drängt sich gleich die nächste Frage auf: Kann Ihr Kind überhaupt nachvollziehen, was Sie von ihm einfordern?

Tischmanieren

Dominiks völlig verzweifelte Mutter findet, dass ihr neunjähriger Sohn untragbar faul geworden ist: „Immer springt er gleich nach dem Essen auf und lässt alles stehen und liegen! Dabei ermahne ich ihn aber ohnehin jedes Mal!“ klagt die junge Frau. „Ich weiß nicht mehr, wie ich dem Kind das beibringen soll. Auch Fernsehverbot hat nichts genützt. Er provoziert mich einfach damit!“ Bevor ich der jungen Mutter einen ungewöhnlichen, aber überaus wirkungsvollen Rat gebe, muss ich zur Sicherheit noch eine wichtige Frage stellen: „Wie oft haben Sie den Essplatz Ihres kleinen Sonnenscheins in den letzten Monaten, vielleicht sogar Jahren selbst abgeräumt?“ Als ich nach dieser Frage in das gleichermaßen verblüffte wie schuldbewusste Gesicht der jungen Mutter blicke, ist mir alles klar. Noch am selben Tag hat die Mutter mit Dominik ein Gespräch: „Mein Schatz“, eröffnet sie ihrem Sohn, „Dafür, dass du deine Sachen bei Tisch nie wegräumst, muss ich mich bei dir entschuldigen…!“

Starke Strategie

„Unglaublich!“, werden manche denken. „Die Mutter hat also das Fehlverhalten ihres Kindes auf die eigene Kappe genommen? Geht das nicht ein bisschen zu weit? Wir können doch nicht jedes Mal…!“ Natürlich müssen Sie sich nicht jedes Mal und für alles entschuldigen!  Aber warum nicht wenigstens ein- oder zweimal? Und weil es ja eigentlich eine kindlich geniale Strategie ist, einfach nur jene Situation zu wiederholen, die von der geliebten Bezugsperson schon viele Male zuvor unterstützt worden ist, scheint nichts einfacher zu sein, als diese Genialität zu würdigen. In so manchem „Ernstfall“ dürfte unsere eigene Unterstützung des Fehlverhaltens also tatsächlich der wahre Grund für die Verweigerungshaltung des Kindes sein. So seltsam dies auch klingen mag: Diese Sichtweise birgt größeres Potenzial für Entspannung in sich als jede andere. In manch verfahrener Situation zwischen Eltern und Kind kann ein neuer Blickwinkel jedenfalls zur Entspannung führen! Schwierig ist es manchmal nur, zeitgerecht die Perspektive zu wechseln, sodass wir uns das Sanktionen oder gar eine Eskalation der Situation ersparen. Die eigene Schwäche dem Kind als wahre Ursache zu „verkaufen“, ist nicht nur eine wirklich starke Strategie, auf die die meisten Kinder sofort ansprechen. Es ist vor allem eine Erklärung! Eine, die sogar ein kleineres Kind viel besser nachvollziehen kann, als jede Strafpredigt, jede Sanktion oder auch nur die bloße ständige Wiederholung ein- und derselben Aufforderung.

Grenzen austesten

Das beschriebene kindliche Fehlverhalten des „Einforderns“ entspringt der ganz natürlichen, fix „programmierten“ Lebensstrategie von Kindern, alles in ihrem jungen Leben nur durch Austesten ihrer Grenzen erlernen zu können. Deshalb ist es auch ganz einfach zu verstehen: Wird einem Kind für einige Zeit das Überschreiten von Grenzen gestattet, oder dieses sogar durch aktive Mithilfe unterstützt, ist ein plötzliches Verbot dieser Sache nicht nachzuvollziehen. Das fällt dann unter „Härte“ und nicht „Strenge“. Denn strenge Eltern fordern nur jene Grenzen ein, die ihnen wirklich wichtig sind. Tut man das konsequent und unmissverständlich, quittieren das Kinder nicht mit Verweigerung, sondern mit Vertrauen, weil ihnen das das Gefühl von Sicherheit und Struktur vermittelt.
Eine alleinerziehende Mutter erklärte mir kürzlich, dass ihre beiden Jungs, Ralf und Sonny, 6 und 8 Jahre alt, nie ihr Zimmer aufräumen: Seit Wochen schon fordert sie es ein! Ohne Erfolg! Dass Mami aber schon jahrelang andauernd selbst in beiden Kinderzimmern aufgeräumt hat, schien auf einmal vergessen. Die Kinder kennen sich nun mit Mamis neuem Verhalten überhaupt nicht mehr aus: Die von den beiden so mühevoll getestete Grenze soll also nun eine ganz andere sein? Wie soll das gehen? Und vor allem: Warum? Mit den Müttern von Dominik, Ralf und Sonny, habe ich zum Beispiel Formulierungen wie die folgenden vereinbart: „Es ist meine Schuld, dass du das bisher immer so gemacht hast, weil ich es zugelassen habe. Aber gleich ab heute will ich das nicht mehr machen! Und dazu brauche ich natürlich deine Hilfe, damit mir das gar nicht mehr passiert! Was für einen Vorschlag hast du denn für mich, wie wir das schaffen könnten?“ Natürlich kann man mit etwas Augenzwinkern den Ball auch ein wenig dem Kind zuspielen: „Bisher hast du mich immer ganz schön ausgetrickst… …und ich hab´ es nicht bemerkt! Ab heute verlasse ich mich aber ganz auf dich, dass du mich nicht mehr austrickst!“ Eine Prise Positives dazu? Bitte sehr: „… und ich freue mich schon sehr darauf, wie du das ab heute hinbekommst!“
Dominiks Mutter und ich haben jedenfalls sofort einen Erfolg sehen können: nach wenigen Sekunden macht der kleine Mann seiner Mutter bereits zwei Vorschläge … Und seine Stimme klingt dabei ziemlich begeistert!

Elterliche Authentizität

Die Strategie des „Auf-die-eigene-Kappe-Nehmens“ ist schon deshalb so unschlagbar wirksam, weil sie absolut authentisch ist! Nichts empfinden Kinder nämlich so positiv, wie eine zutiefst ehrliche Aussage von der geliebten Bezugsperson. Dass manche Erwachsenen sich zuweilen schlecht dabei fühlen, weil sie glauben, durch eine Entschuldigung vor dem Kind das Gesicht zu verlieren, ist zwar verständlich, aber vollkommen unbegründet. Ganz im Gegenteil: Dieses Verhalten vermittelt persönliche Stärke, die das Kind sofort spürt und dankbar aufnimmt. Die Verantwortung dafür, dass er erst dann etwas einfordert, wenn es ihn schon längere Zeit gestört hat, trägt der Erwachsene selbst. Es ist eine ganz spezifische menschliche Schwäche: Wir reden über Dinge erst, wenn wir schon längst sauer sind. Besonders häufig tun wir das bei Menschen, die wir lieben! Wir wollen ja mal nicht so sein … Streit liegt in der Luft! Doch dürfen wir uns nicht wundern, warum das insbesondere Kinder nicht verstehen und dann eine ganz bestimmte Haltung einnehmen. Jene nämlich, die ihrer kindlichen Handlungsorientierung voll und ganz entspricht: Die Verweigerungshaltung.

FratzTipps

So hört Ihr Kind auf Sie

Gönnen Sie sich vor dem Verhängen einer Sanktion oder Strafpredigt erstmal eine kurze Denkpause, ob Sie vielleicht ein bestimmtes Fehlverhalten nicht schon selbst zugelassen oder gar gefördert haben.
Fordern Sie ein bestimmtes Wohlverhalten Ihres Kindes nur dann ein, wenn Sie dieses immer schon in der gleichen Weise eingefordert haben.
Übernehmen Sie Verantwortung für die Dinge, die Sie von Ihrem Kind fordern, indem Sie sie dann aber auch konsequent durchziehen.
„Verwaschene“ und ungenaue Anordnungen kann ein Kind einfach nicht nachvollziehen.
Kinder werden niemals zu einer bestimmten Sache ein Fehlverhalten an den Tag legen, es immer eindeutig und konsequent eingefordert worden ist. Die so gefürchtete Verweigerungshaltung kommt dann zumeist gar nicht erst auf!
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