Fit für die Schule

Mit großen Augen steht der sechsjährige Florian vor dem noch fremden Gebäude. In seiner rechten Hand hält er eine bunte Schultüte, größer als er selbst. Die linke klammert sich gerade etwas fester um Mamas Hand. Gleich heißt es Abschied nehmen, ins Klassenzimmer gehen, die Lehrerin begrüßen und sich mit 24 teilweise fremden Kindern rangeln, wer auf welchem Platz sitzt. Heute beginnt der Ernst des Lebens, hat Oma gesagt. Was das wohl bedeutet?

Kein leichter Übergang

Der Spruch vom Ernst des Lebens wird heute zwar nicht mehr so gern angebracht, aber ein Körnchen Wahrheit ist darin schon enthalten. Bis zum Eintritt in die Schule hat ein Kind sehr viele Freiheiten, selbst wenn es regelmäßig in den Kindergarten geht. Die Schule ist Pflicht, und sie strukturiert den Tag der kleinen ABC-Schützen um einiges rigoroser. Es gibt einen Stundenplan, und wenn der Unterricht beginnt, wird auf niemanden gewartet. Pünktlichkeit ist plötzlich ein großes Thema. Auch wenn der Zugang noch spielerisch ist – in der Schule gibt es Lernziele, Hausübungen, Bewertungen. Kurz: Von den Kindern wird erstmals Leistung verlangt.

Dazu kommt ein Wechsel der Bezugsperson, der oftmals dann heftig ist, wenn das Kind vorher keinen Kindergarten besucht hat. Von der Intimität der Eltern, der exklusiven Aufmerksamkeit von Mama und Papa geht es da direkt zur Autorität der Lehrerin, noch dazu in einer vielfältig gemischten Schulklasse mit bis zu 25 Kindern. Der Platz für die eigenen Schnapsideen und Launen, für Rückzug oder Impulsivität wird kleiner. Das Schulkind ist gefordert, sich stärker einer Gruppe anzupassen als je zuvor. Ein ordentlicher Brocken für Sechsjährige.

Vorstufe Vorschule

Für manche ist der Übergang zu abrupt. Andere sind mit sechs Jahren einfach noch nicht so weit. In diesen Fällen, wenn also von Seiten der Eltern oder von Seiten der Schuldirektion Zweifel an der Schulreife eines Kindes bestehen, kann es vorerst in die Vorschule aufgenommen werden. „Der Begriff Schulreife ist ziemlich obsolet“, korrigiert DDr. Andrea Richter, Leiterin der Abteilung Schulpsychologie und Bildungsberatung im niederösterreichischen Landesschulrat, im Gespräch mit FRATZ & CO. „Früher hat man die Kinder in den Kindergarten zurückgestellt. Heute muss innerhalb der Schule geschaut werden, wie man das Kind am besten betreut.“

Flexibler Schulstart

Ein Jahr Vorschule ist kein verlorenes Jahr; Kinder haben im österreichischen Schulsystem insgesamt drei Jahre Zeit, die ersten beiden Volksschulklassen zu absolvieren. Gleichzeitig ist es während des gesamten ersten Schuljahres möglich, zwischen Vorschule und erster Klasse zu wechseln. Die Kinder bekommen diese flexible Schuleingangsphase kaum mit – wenn keine eigene Vorschulklasse vorhanden ist, wird die Vorschulgruppe oft gemeinsam mit den Erstklässlern unterrichtet.

Was ist Schulreife?

Dennoch kann die Entscheidung der Direktion, ein Kind zunächst in die Vorschule zu schicken, beim zuständigen Schulrat schriftlich angefochten werden. Spätestens dann kommen schulärztliche und/oder schulpsychologische Gutachten ins Spiel, welche die Schulreife bestimmen. Womit wir wieder bei dem doch nicht ganz obsoleten Begriff sind. Klar ist: Schulreife bezeichnet kein ausschließlich geistiges Phänomen. Neben den intellektuellen Fähigkeiten müssen auch die körperlichen, sozialen und emotionalen Voraussetzungen stimmen.

Emotionale Reife

„Die wichtigste Voraussetzung für die Schulreife ist, dass sich die Kinder von den Eltern trennen können“, sagt Andrea Richter. „Wenn die Kinder im Kindergarten waren, ist das fast immer gegeben, außer man hat Angst vor der Schule – was durchaus auch von den Eltern ausgehen kann.“ Zu den sozialen Voraussetzungen gehört auch die Fähigkeit, sich in eine Gruppe einzufügen, Rücksicht zu nehmen, Regeln zu befolgen und bei Konflikten nicht gleich zuzuschlagen. In einer so großen, gemischten Gruppe muss ein Kind auch selbstständig agieren können. Damit sind nicht nur Aufträge der Lehrerin gemeint, sondern auch scheinbar banale Dinge wie Anziehen. Wenn die Klasse schon auf den Pausenhof stürmt, während es noch mit den Schuhbändern kämpft, kann das für ein Kind zum dramatischen Ereignis werden.

Körper und Geist

Gleiches gilt, wenn ein Kind körperlich nicht auf der altersgemäßen Entwicklungsstufe angekommen ist. Wenn Treppensteigen zum Balanceakt wird und das Führen eines Bleistifts zu viel Mühe macht, steht das einem sinnvollen Einstieg in die erste Klasse im Weg. Ein guter Indikator für die intellektuelle Reife eines Kindes ist seine Sprache. Wenn es Geschichten erzählen und wiedererzählen kann, Fragen versteht und entsprechend beantwortet, sich insgesamt verständlich zu machen vermag, spricht das für die Schulreife. Andrea Richter ergänzt: „Es sollte auch ein gewisses Ausmaß an Mengen erfassen, bis fünf, sechs zählen können.“ Und es schadet nicht, wenn sich das Kind eine Viertelstunde oder länger auf eine Tätigkeit konzentrieren kann.

Ganz normale Kinder

Man sieht: Für die Schulreife bedarf es keiner Großtaten. Reif für die Schule sind praktisch alle „gesunden Kinder, die eine normale Entwicklung durchlaufen haben“, erklärt Andrea Richter. Die meisten Kinder brauchen deshalb auch keine besondere Förderung, kein Training für die Schule, das über das alltägliche Miteinander hinausgeht.
Schnuppertage

Wenn Eltern ihren werdenden Schulkindern doch helfen wollen, geht das am besten, indem sie ihnen den Übergang in die neue Lebensphase erleichtern. Es hilft zum Beispiel, wenn das Kind schon vor der Einschreibung seine künftige Schule kennen gelernt hat. Einige Schulen bieten Besuchstage für Kindergartenklassen an, bei denen die Kleinen von den Volksschülern betreut werden. Zu Hause kann man schon einmal den Platz für die Hausübungen herrichten, im Geschäft gemeinsam die Schultasche aussuchen und einräumen. Vielleicht hat Ihr Kind auch Fragen, welche die Schule betreffen. Da hilft es, einfach mal Freunde einzuladen, deren Kinder schon in der Schule sind. Die Kids klären dann alle offenen Fragen unter sich.

Alltägliches Training

Und wenn es doch Training sein soll, üben Sie nicht das Alphabet oder die Primzahlen – trainieren Sie Selbstständigkeit! Das heißt nicht etwa, dass Sie Ihr Kind so oft wie möglich alleine lassen sollen. „Man kann dem Kind kleine Aufträge geben. Schicken Sie es im Supermarkt nach einem Produkt. Nutzen Sie den Alltag, lassen Sie es die Pfirsiche ins Sackerl geben und dabei abzählen“, rät Andrea Richter.

Jause mit Gabel

Nicht zuletzt haben sich auch die Eltern auf ihre neue Rolle vorzubereiten. Wann muss die Familie aufstehen, damit in der Früh kein Stress entsteht? Wie und mit wem kommt das Kind zur Schule? Was braucht es an Utensilien für die erste Klasse? Und was, bitte, sollen wir ihm zur Jause mitgeben? Dazu eine Anekdote aus dem Nähkästchen der Schulpsychologin: „Wir hatten einen Fall, wo die Eltern einen Kuchen mit Besteck mitgegeben haben, damit das Kind ihn schön essen kann. Ein Kind in der Pause mit einer Gabel zu bewaffnen – da ist das Chaos vorprogrammiert!“
Schule ist nicht alles

Doch bei aller berechtigen Aufregung: Die Schule soll auch nicht zum alles beherrschenden Thema in Ihrer Familie werden. Das baut nur Druck auf, und Druck bedeutet Angst. Schule, Arbeit, Pflicht sind Selbstverständlichkeiten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wenn Sie Ihren Kindern diesen guten Schuss Gelassenheit mitgeben können, brauchen Sie sich um deren Schulkarriere keine Sorgen zu machen.

Einige Hinweise auf die Schulreife
Das Kind kann …
 
• sich alleine an- und ausziehen
• Messer und Gabel benützen
• rückwärts gehen
• einen Ball prellen und ihn fangen
• verschiedene Materialien blind erkennen
• Fehler in einem Bild suchen
• Figuren und Farben zuordnen

• eine Bildgeschichte in die richtige Reihenfolge bringen
• seine eigenen Wünsche ausdrücken
• neue Aufgaben eigenständig anpacken
• alltägliche Arbeiten allein erledigen
• auf andere Kinder Rücksicht nehmen
• aufgestellte Regeln befolgen

Infos: www.schulpsychologie.at

Mag. Markus Widmer

Foto: Monkey Business Images – shutterstock.com

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