Was bedeuten Märchen

Märchen sind älter als die Literatur, kein Dichter hat sie erfunden. Erzählungen, Erlebtes, eigene Wunschvorstellungen und Träume aus dem tiefen Unterbewusstsein wurden seit Jahren zusammengetragen, fantasievoll ausgeschmückt und von Mund zu Mund überliefert. So entstanden auf der ganzen Welt verschiedene Märchen, die zu einem Teil der Volkspoesie, oft sogar des nationalen Kulturguts wurden.
Das Leben selbst habe sie geschrieben, befanden die Gebrüder Grimm, die sich vor vielen Jahren dazu berufen fühlten, diese Erzählungen aus dem Volk zu sammeln und aufzuschreiben.

Ihrem Ursprung nach sind sie Geschichten von Erwachsenen für Erwachsene, haben in alten Zeiten zur Unterhaltung gedient und eine ähnliche Rolle gespielt, wie sie heute größtenteils von Fernsehen und Video eingenommen wird. Die Bezeichnung “Kinder- und Hausmärchen” verdanken wir Wilhelm Grimm, der die einstige Urfassung veränderte und den Märchen im Laufe der Zeit eine zunehmend kindgerechte Note verlieh.

Symbolik

Eine Reihe von Märchenhelden hat bis heute nichts von ihrem Glanz eingebüßt. Einige davon sind sogar ins gesellschaftliche Bewusstsein eingegangen, wie beispielsweise der Märchenprinz. Zahlreiche Bilder und Karikaturen haben ihn verewigt, in der Werbung hat er seinen Platz, und sogar in einer Schlager-Hitliste konnte er schon den Rang Nummer 1 für sich verzeichnen.
Ähnlich verhält es sich auch bei anderen tragenden Märchenfiguren wie Froschkönig, Schneewittchen & Co. Betrachtet man nun die Welt der Märchenprinzessinnen und -prinzen, Märchenwölfe und Märchenfrösche, erkennt man, dass hinter vielen Handlungen, aber auch hinter vielen Märchenfiguren selbst, eine Symbolik steckt.

So lässt sich auch die von vielen Märchenkritikern verurteilte Brutalität in Märchen entkräften, da sie nur ein bildhafter Ausdruck von Gefühlen ist, die es schließlich nicht nur in Märchen gibt. Psychologen deuten zum Beispiel das häufig verwendete Motiv, jemanden “aufzuessen” oder zu “fressen” als nichts anderes, als übermäßige Liebe oder Eifersucht.

Im Märchen “Hänsel und Gretel” verweisen einige Interpretationen darauf, dass die spezifische Mutterrolle eher in der “Hexe” als in der echten Mutter zu sehen ist. Was das Märchen höchst drastisch schildert, ist die simple Erfahrung, dass viele Mütter Ihre Söhne am liebsten in ein Ställchen sperren und für sich behalten und aus lauter Liebe “aufessen” würden.

In einigen Interpretationen des weitverbreiteten Märchens “Rotkäppchen” kommt zur Bedeutung des Wolfes, der den Prototyp des Bösen verkörpert, sogar noch ein sexueller Aspekt dazu: sozusagen der “Wolf im Manne”, der das süße Rotkäppchen “vernaschen” will.

Auf jeden Fall bedient sich dieses Märchen wie auch der “Froschkönig”, einer typischen Darstellungsweise im Märchen: der Tiergestalt als Maske, hinter der menschliche Schwächen oder gesellschaftlich nicht erwünschte Verhaltensweisen, manchmal aber auch positive Eigenschaften verschleiert werden.

Rollenklischees

Natürlich entspricht das damalige Bild der Frauen und Mädchen in den “Kinder- und Hausmärchen” durchaus nicht mehr den heutigen Vorstellungen. Die Frau hatte den Ruhepol für den Mann darzustellen, welcher sich im weltlichen Getümmel bewegt. Schweigsamkeit war daher eine der höchsten Tugenden der Frau. Heute würde man sagen, dass das Bestreben (der Männer) vielmehr darin lag, dass Frauen keine Artikulationsmöglichkeit haben sollten, um ihre eigenen Interessen zu vertreten.
In dem Märchen “Die Zwölf Brüder” muss die Schwester zum Beispiel sieben Jahre lang in Schweigen verharren, um nicht den Tod ihrer Brüder zu verursachen. Sie ist bereits an den Scheiterhaufen gebunden, als ihre Brüder plötzlich erscheinen und sie retten. Ein weiteres Beispiel findet sich in “Aschenputtel”.

Die Hauptperson erscheint uns aber trotz ihrer Schweigsamkeit sympathisch. Das Gute setzt sich durch, auch ohne zu sprechen. Die Vertreterinnen des “schwachen” Geschlechts in Märchen sind nämlich keineswegs passiv. Sie können zwar nicht gegen Riesen und Drachen kämpfen, sind aber klug, listig und ausdauernd. In vielen Märchen wie z.B. “Aschenputtel” oder “Schneewittchen” handeln sogar nur die weiblichen Figuren, sowohl böse als auch gute, das männliche Geschlecht erscheint nur als machtloser Vater oder am Schluss in Gestalt des Prinzen. In “Die Schneekönigin” oder “Hänsel und Gretel” übernehmen Mädchen sogar die Rettung des Spielgefährten oder Bruders. Man könnte das sogar emanzipatorisch nennen – ein Zeichen besonderer Passivität ist es jedenfalls nicht.

Was männliche Märchenhelden angeht, ist ihr Weg oft voller Abenteuer, die meist glücklich enden. Auf dieser Ebene werden manchmal auch Tugenden vermittelt, die durchaus positiven Charakter haben (Treue, Ehrlichkeit, Mut). Die von den Märchen entworfene Welt ist also keineswegs ein gemütliches Schlaraffenland, sondern ein Reich der Aufgaben und des aktiven Handelns. Märchenhelden sind, wie in “Tischlein deck dich” trotz ihrer meist schlechten Ausgangsposition mutig und optimistisch und könnten durchaus als Vorbild dienen.

Sind Märchen für Kinder geeignet

In den Neunzigerjahren erhoben Märchenkritiker immer wieder Einwände, Märchen seien nicht kindgerecht und zu grausam. Doch es ist fraglich, ob wir unseren Kindern tatsächlich etwas Gutes tun, indem wir ihnen die dunklen Seiten des Lebens völlig verschweigen. Viele Psychologen und Pädagogen haben sich mit dem Phänomen “Volksmärchen” auseinandergesetzt und dabei auf diverse Märcheninterpretationen zurückgegriffen.
In seinem Buch: “Kinder brauchen Märchen” vertritt Bruno Bettelheim die Meinung, dass die Strafe, die Bösewichter im Märchen erleiden, geradezu notwendig für die psychische Entwicklung des Kindes sei. Kinder brauchen die Zuordnung zu Gut und Böse und die Ausmerzung des Bösen, um Ordnung in ihrem Innersten herzustellen und persönliche Sicherheit zu gewinnen.

Das Kind projeziert seine inneren Ängste auf die negativen Figuren, welche dann durch die Kräfte des Guten, mit denen es sich identifizieren kann, vernichtet werden. Die meisten Märchen sind so strukturiert, dass sie der Psyche des Kindes in diesem Alter entsprechen. Eine behagliche Atmosphäre und bestimmte Vorleserituale machen die “Märchenstunde” für alle Beteiligten zu einem besonderen Vergnügen.

Kinder suchen sehr früh nach dem Sinn des Lebens. Märchen können dabei als Ratgeber dienen, da sie in einer für das Kind verständlichen Weise vermitteln, wie man Probleme selbstständig lösen kann. Wenn die bösen Gestalten im Märchen überwunden werden, erfährt das Kind, dass existenzbedrohende Kräfte besiegt werden können. Dabei ist es wichtig, dass der Märchenheld ein gewöhnlicher Mensch ist, häufig sogar ein zurückgesetztes Kind, mit dem es sich identifizieren kann.

Foto: Atelier Sommerland/Shutterstock.com

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