Der Babyschock

Die letzten Wochen der Schwangerschaft waren voll von Träumen gewesen: In denen spielten ein rosiges Baby und eine glückliche Mutter in schicken Schlauchkleidern die Hauptrollen. Und dann sah ich an mir herunter. Ein faltiger Bauch schwabbelte schlaff um mich herum und mein Busen war zu einer irren Größe aufgeschwollen und tat weh. Einfach sauweh.

Der Babyblues

Babyblues heißt eine der bekanntesten Krisen nach der Geburt, ein Stimmungstief, das auch in Krankenhäusern wohl bekannt ist. Die “Heultage” setzen in den ersten zehn Tagen nach der Entbindung ein, meist zwischen dem 3. und 5. Tag. Auslöser sind meist eine Kombination von physischen und psychischen Faktoren. Durch die Geburt kommt es im Körper zu einem radikalen Entzug von Schwangerschaftshormonen, Prolaktin – das Milchbildungshormon – muss schlagartig ausreichend produziert werden.
Und was ein hormonelles Ungleichgewicht bedeutet, das wissen die meisten Frauen nur zu genau. Schon eine vergleichsweise harmlose Umstellung wie in den Tagen vor der Menstruation beschert vielen Stimmungsschwankungen und einen Hang zu Depressionen. Ungleich heftiger schlägt da die Umschaltung von “schwanger” zu “nicht schwanger, aber stillend” ein. Verschärft wird die Situation noch durch den seelischen Ausnahmezustand.

Der Ammenschlaf

Plötzlich ist alles anders. Und ganz bestimmt nicht so, wie man es sich in den Monaten der Schwangerschaft vorgestellt hat! In den ersten Wochen nach der Geburt vergaß ich, wie man schläft. So richtig mit kuschligem Bett, gemütlichem Wegdösen und Aufwachen, wenn Körper und Geist ausgeruht sind.
Statt dessen rollte ich mich minutenweise zusammen um einfach wegzukippen und beim ersten Maunzen des Babys wieder hochzuschrecken. Und als ich eines Tages gegen den Türstock rannte, weil ich ihn einfach nicht gesehen hatte, war mir klar, dass ich eine meiner Grenzen erreicht hatte.

Ein besonderer Hormoncocktail, der vorwiegend aus Oxytocin, Prolaktin und Adrenalin besteht, löst Schutz- und Verteidigungsinstinkte aus. Eine Folge davon ist der “Ammenschlaf” der letzten Schwangerschaftswochen und der ersten Babyzeit. Kurze, seichte Schlafphasen und die Fähigkeit, das leiseste Geräusch des Kindes wahrzunehmen, bieten dem Neugeborenen den größtmöglichen Schutz. Und machen die Mutter restlos fertig.

Sechs Wochen Horror

In den meisten Kulturen hat die Wöchnerin eine Art Schonfrist von 40 Tagen. In dieser Zeit kümmern sich andere Frauen aus der Großfamilie oder Nachbarinnen um Haushalt, Geschwister, Ehemann und das leibliche Wohl der Mutter. Erst nach Ende dieser Frist nimmt die Frau wieder am normalen Leben teil. Wohl kein Zufall, dass sich die 40-Tages-Frist ziemlich genau mit den sechs Horror-Wochen deckt, die viele Familien nach der Geburt erleben.
Bloß ist es in unserer Kultur eben nicht so einfach, ein wenig Verantwortung auf andere Frauen aufzuteilen. So fängt die Kernfamilie normalerweise fast alleine alle Probleme ab. Fragen Sie nie die Mutter eines Neugeborenen nach ihrem Befinden! Es sei denn, Sie wollen eine ehrliche Antwort: Zähnefletschen statt Lächeln und ein hasserfülltes “Dankegut”-Gemurmel anstatt eines euphorischen Lageberichtes.

Der Wochenfluss fließt, die Brust trieft, die Stilleinlagen sind hässlich. Das Stillen tut weh, die Windel pickt nicht richtig und das Baby ist an keinerlei Unterhaltung interessiert – nur an Schlafen, Essen und Verdauen. Und der Partner steht im besten Fall hilflos daneben. Es war furchtbar. Meine Frau knurrte mich nur an, weil ich das Baby nicht richtig hielt.

Oder falsch wusch. Oder den Hintern schlecht abwischte. Und ich hatte Angst, es würde immer so bleiben. Und Panik, weil ich nun für finanzielle Sicherheit sorgen und mehr arbeiten musste. Ich fragte mich, wie wir je an noch ein zweites Kind denken konnten – war nicht das eine schon zuviel?” Offene Worte eines Vaters – zufällig ist er mit mir verheiratet. Bewundernswert. Leider sah ich das nach der Geburt etwas anders.

Und wo bleibt der Vater

Viele Männer reagieren mit beruflichem Ehrgeiz auf die Geburt ihres Kindes. Die Vaterrolle drängt sie ein wenig an den Rand der Mutter-Kind-Beziehung. Sie können nicht stillen und meist auch nicht so viel Zeit mit dem Baby verbringen. Ihre Verantwortung liegt in ihren Augen darin, den Lebensunterhalt abzusichern, schließlich wird die Frau in der nächsten Zeit nicht zur Arbeit gehen.
Und wenn der Vater – erschöpft von Schlafmangel und Mehrarbeit – nach Hause kommt, erwartet ihn statt der erhofften Anerkennung eine Frau, die ihn leicht ausgerastet fragt, warum er denn bitte gerade JETZT so viele Überstunden macht. Professor Dr. Dorow von der Universität Frankfurt bezeichnet die Ankunft eines neuen Babys in der Familie als eine Art Kulturschock, vergleichbar mit dem Umzug in ein völlig unbekanntes Land.

“Schocksituationen treten in den Phasen des Übergangs von einer bisher gewohnten Umgebung in eine neue Umgebung mit noch unbekannten Kontexten auf, die eine Neuorientierung erforderlich machen.” Stimmt. Wieviel Literatur man auch immer vor der Geburt verschlingt, nach der Geburt nutzt sie einem nicht viel. Was auch immer auf die Familie zukommt, das weiß sie erst, wenn sie es erlebt. Kaum eine Schwangere kann sich vorstellen, welches Gefühl der Panik eine Mutter entwickelt, wenn ihr Baby zum ersten Mal Fieber hat!

Kulturschock Baby

Der Psychologe Dr. Wagner beschreibt eine Reihe psychischer Reaktionen:
Stress auf Grund der Belastung
Ein Gefühl des Verlustes in Bezug auf Freunde und alte Gewohnheiten
Ein Gefühl der Ablehnung, weil man sich vom Baby und/oder vom Partner nicht geliebt fühlt
Verwirrung über die eigene Rolle und die eigenen Gefühle
Überraschung, Angst und Empörung, nachdem man sich des vollen Ausmaßes der Veränderung bewusst geworden ist
Ohnmachtsgefühl, weil man meint, mit der neuen Situation nicht zurechtzukommen
Prof. Dr. Dorow: “Die Angleichung an die Familiensituation erfolgt in Phasen. Die Krisensituation ist eine von ihnen und führt letztendlich zum Ergebnis einer erfolgreichen Neuorientierung und neuen ‚Mündigkeit‘“. Aha. Es ist also positiv, dass wir Krisen nach der Geburt erleben? Objektiv vielleicht. Subjektiv würde bestimmt jede Familie gerne darauf verzichten.

Mann – Frau – Familie

Apropos Familie. War da nicht noch etwas? Etwas, das nur Mann und Frau betrifft? Sex vielleicht? Einige Wochen nach der Geburt erinnerte ich mich nur mühsam daran, dass ich – irgendwann einmal einst vor langer Zeit – auch einmal ein funktionierendes Sexualleben gehabt hatte. Klar, in der Natur ist es sicher nicht vorgesehen, dass sich ein Weibchen mit neugeborenen Jungen schon wieder paart. Außerdem hemmt Prolaktin die Libido.
Müdigkeit auch. Und ein schreiendes Baby sowieso. Wenn sich mein Mann nackt neben mir rekelte, dachte ich höchstens daran, dass er sich verkühlen könnte, sofern er sich nicht bald etwas anzöge. Und wenn er hoffnungsvoll um mich herumstrich, löste das in mir die gleichen Gefühle aus, als würden mich unsere Katzen um Futter anschnorren.

Natürlich überlebt jeder Mann unbeschädigt eine sexgebremste Zeit. Trotzdem: Wenn das Thema totgeschwiegen wird, kann er vielleicht nicht verstehen, warum seine Partnerin vorübergehend nicht oder wenig auf ihn reagiert. Eifersucht auf das Baby kann die Folge sein. Vielleicht ist es aber auch gerade umgekehrt: Sie würden schon gerne wieder ein wenig intensiver kuscheln und Ihr Partner hat Angst, der Mann in ihm könnte den Vater verdrängen! Versuchen Sie, sich nicht zurückgestoßen zu fühlen, auch “Sex zu dritt” will gelernt sein. Eltern werden nicht so schnell geboren wie ihre Babys.

Guter Rat ist billig

Ein Wochenende bei meinen ansonsten hochverehrten Schwiegereltern begann üblicherweise mit den schwiegermütterlichen Worten: “Also ich habe damals bei meinen Kindern…”, führte dann nahtlos über in einen Monolog über “Also ich habe damals bei meinen Kindern…” und endete mit der Feststellung
“Also ich habe damals bei meinen Kindern…”. Fein. Ich war damit in alles eingeweiht, wie sie damals bei ihren Kindern gehandelt hatte – was mir aber heute in der Behandlung meines Kindes nicht weiterhalf. Gerade die Großeltern nehmen natürlich besonderen Anteil an der Ankunft eines Enkelkindes. Schließlich sehen sie in ihm einerseits das Weiterleben ihrer Familie, andererseits können sie in Gedanken ihr eigenes Elternsein noch einmal erleben.

Bloß, dass in der Erinnerung natürlich alles viel rosiger und perfekter scheint, als es realiter wirklich war. Viele Ansichten haben sich geändert, viele medizinischen und psychologischen Erkenntnisse auch. Die Ratschläge müssen ja nicht schlecht sein, aber ungebeten erteilte können den Widerspruchsgeist der Eltern hervorragend wecken. Hören Sie den “Babyexperten” einfach nur zu und handeln Sie nach den Ratschlägen, die Ihnen am besten erscheinen. Oder nach keinem von ihnen. Und machen Sie alles genauso, wie Sie es für richtig erachten. Schließlich müssen Sie ja nicht die Fehler der anderen kopieren, Sie haben das Recht auf Ihre eigenen.

Eine Welt voll Babybäuche

In meiner Schwangerschaft war ich überrascht, wie viele Frauen plötzlich ein Baby erwarteten, mit einem Mal war die Welt voller Babybäuche. Kennen Sie diesen Effekt? Und ähnlich war es nach der Geburt. Überall Säuglinge, wohin ich schaute. Die Natur hat es so eingerichtet, dass man immer auf Menschen, die in einer Situation ähnlich der eigenen sind, besonders sensibel reagiert.
Und so hatte ich zwar das Gefühl, dass der Kontakt zu manchen kinderlosen Freunden etwas lockerer wurde, andererseits bauten wir intensivere Beziehungen zu anderen Eltern auf. Bei ihnen konnten wir wenigstens ungestraft stundenlang über unser Baby reden, ohne dass sie uns für völlig irre Langweiler hielten. Und so wird das Leben der meisten Familien nach einigen Monaten wieder rhythmisch und zufrieden. Aber leider nicht ohne Ausnahmen.

PND – die ganz „normale“ Verstimmung

Etwa 10 bis 20 Prozent der Mütter erkranken an PPD, der Postpartalen Depression, auch als PND (Postnatale Depression) bekannt. Sie kann irgendwann im Laufe des ersten Jahres nach der Geburt entstehen und entwickelt sich meist schleichend häufig aus einem Geburtstrauma, aus Erschöpfung und Überforderung. Psychosomatische Symptome wie Kopfschmerzen, Herzbeschwerden und Verlust der Konzentrationsfähigkeit können bis zu Panikattacken und in extremen Fällen sogar zu negativen Gefühlen dem Kind gegenüber oder Selbstmordgedanken führen.
PPD ist völlig ausheilbar, je früher diese Krankheit von der Frau selbst oder ihrer Umgebung erkannt wird, desto besser ist sie unter Kontrolle zu bringen. “Reiß dich zusammen” ist allerdings der schlimmste Rat, den man einer Frau mit PPD geben sollte! Hilfe bei alltäglichen Arbeiten, Zuhören, eine Selbsthilfegruppe und vielleicht auch ein Termin bei einem Therapeuten befreien viel mehr. Die schwerste Form der nachgeburtlichen Krise ist die Wochenbettpsychose, bei der die betroffene Mutter den Kontakt zur Realität verlieren kann. Sie tritt nur selten, bei 1-3 Promille der Mütter auf.

Diese postpartale Psychose entsteht meist in den ersten beiden Wochen nach der Geburt, sie kann sich aber auch aus einer Depression entwickeln und wird durch körperliche Faktoren wie z.B. eine Schilddrüsenschwäche und psychische Risiken wie z.B. ein sehr traumatisches Geburtserlebnis begünstigt. Wochenbettpsychosen äußern sich u.a. durch Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Angstzustände.

PPD – die Depressionserkrankung

Viele der Frauen, die ihre Kinder nach der Geburt aussetzen oder sogar töten, leiden unter einer extremen PPD oder Wochenbettpsychose. Die Stadt Hamburg hat nun versucht, ein Ventil für Frauen zu schaffen, die keinen Ausweg mehr sehen: Die Babyklappe. Sie ist nichts anderes als ein Wärmebett, das von außerhalb des Hauses zugänglich ist. Nach einigen Minuten löst ein Sensor in dem Bettchen Alarm im Krankenhaus aus, das Kind wird versorgt und die Mutter kann unbehelligt ihrer Wege gehen.
Wien geht noch einen Schritt weiter: Seit einiger Zeit ist es möglich, auch anonym zu gebären. Im St. Josefs-Krankenhaus der Salvatorianerinnen können Frauen unter medizinischer Versorgung ohne Angaben zur Person ihr Baby zur Welt bringen und dem Personal übergeben. Acht Wochen nach der Geburt hat die Mutter noch das Recht, ihr Kind zurückzufordern, danach wird es zur Adoption frei gegeben. Ein Ausweg aus der Krise? Für die Mutter wohl nur scheinbar, für das Kind aber vielleicht lebensrettend.

Ich bin heute noch froh, dass mich nichts anderes erwischte als der Babyblues – ein Schicksal, das ich mit etwa 80 Prozent aller Mütter teile. Und wann und wie die Mutterliebe kam, das weiß ich nicht. Fest steht: Wer heute meinen bemerkenswert hübschen Sohn mit den bemerkenswert blonden Locken nicht uneingeschränkt anbetungswürdig findet, erntet nur Zähnefletschen von mir. Und das kommt von Herzen.

Foto: Africa Studio – shutterstock.com

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